Neurotizismus bezeichnet in der Persönlichkeitspsychologie die emotionale Labilität eines Menschen. Neben Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Extraversion und Offenheit bildet der Neurotizismus eine Kategorie in den sogenannten „Big Five“. Diese fünf Faktoren bilden in der Persönlichkeitsforschung ein allgemeines Standardmodell, anhand dessen sich ein Mensch einordnen lässt. Heute möchten wir einmal der Frage nachgehen, ab wann eine Persönlichkeit als neurotisch eingestuft wird und an welchen Charakteristika sich dies festmachen lässt.
Was ist Neurotizismus?
Die Merkmale eines hohen Neurotizismuswertes zeichnen sich dadurch aus, dass sie kontinuierlich, stabil und über einen langen Zeitraum auftreten. Im Gegensatz zu Menschen, die emotional stabil sind, reagieren neurotische Personen stärker auf Situationen die Angst oder Stress hervorrufen. Auch brauchen sie anschließend länger, um sich wieder zu beruhigen. Für den stark ausgeprägten Neurotizismus ist hauptsächlich das limbische System im Gehirn verantwortlich, welches unter anderem für das Triebverhalten und die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist. In diesem Falle werden externe Reize stärker emotional kodiert, als bei anderen. Wie neurotisch eine Persönlichkeit einzustufen ist, wird in der Persönlichkeitspsychologie zumeist mit Hilfe von Fragebögen ermittelt. Die charakteristischen Verhaltensweisen, die einen neurotischen Menschen ausmachen, werden wir nun im Einzelnen aufführen. Gleichzeitig kannst du auch überprüfen, inwiefern du diese Muster bei dir selbst wiedererkennst und wie weit der Neurotizismus in deiner Persönlichkeit ausgeprägt ist.
Allgemeine Reizbarkeit
Wer sich ständig unverhältnismäßig stark über kleine Probleme des Alltags beschwert, kann eine ausgeprägte neurotische Seite haben. Wenn die Bahn wieder einmal fünf Minuten Verspätung hat, die Nachbarskinder zu laut im Garten spielen, oder die ältere Dame in der Supermarktschlange schier endlos lange zum Bezahlen braucht, dann ist das zwar ärgerlich, aber für emotional stabile Menschen noch lange kein Grund um in einen Tobsuchtsanfall zu verfallen. Das Phänomen lässt sich auch wunderbar im Straßenverkehr beobachten, wenn beispielsweise ein anderer Verkehrsteilnehmer einen kleinen Fehler macht, der fortan noch minutenlang den Ärger des neurotischen Fahrers hervorruft – auch wenn der „Übeltäter“ schon lange außer Sichtweite ist.
Neigung zu Ängsten und Nervosität
Menschen, bei denen der Neurotizismus stark ausgeprägt ist, klagen oft über Angstzustände und ein nervöses Gefühl. Es können schon kleine Unregelmäßigkeiten im Alltag sein, die diese Emotionen hervorrufen. Wenn sich die Verabredung eines neurotischen Menschen minimal verspätet, wird dieser schon nach wenigen Minuten ein Gefühl der Unsicherheit bekommen und wahrscheinlich zum Hörer greifen, um der Verspätung auf den Grund zu gehen. Während stabile Charaktere mit so einer Situation eher gelassen umgehen würden, verfallen labile Individuen schnell in Panik. Diese Ängste werden oft nicht einmal durch real eintretende Situationen ausgelöst. Häufig ist es allein die Angst davor, dass etwas schlimmes passieren könnte, die neurotischen Personen keine ruhige Minute lassen. Diese Verhaltensweise spiegelt sich auch bei den sogenannten „Helikopter-Eltern“ wider, die ihre Kinder zu jeder Zeit vor jeder noch so kleinen Gefahr schützen wollen. Eine normale Kindheit ist unter diesen Umständen jedoch kaum möglich
Körperliche Symptome
Hierzu zählen unter anderem Magenbeschwerden, Schwindel oder Kopfschmerzen, die keine krankheitsbedingte Ursache haben. In diesem Fall werden die Beschwerden durch den emotionalen Zustand der Person hervorgerufen.
Ständige Unzufriedenheit
Ein weiterer neurotischer Charakterzug ist die dauerhafte Unzufriedenheit – und das ständige Kundtun selbiger. Menschen mit stark ausgebildetem Neurotizismus beschweren sich bei ihrem Mitmenschen gerne über jede Kleinigkeit des Alltags und haben daher schnell den Stempel einer „Drama Queen“. Dieses Verhalten belastet nicht nur die neurotische Person selbst, da es ständig ihre Stimmung in den Keller zieht, sondern stört auch auf Dauer auch alle anderen. Die Gemütslage solcher Individuen ist in der Regel negativ. Worin andere, stabile Leute eventuell eine Chance sehen, erkennen sie ein riesiges Problem.
Traurigkeit und Melancholie
Dass ein Mensch von Zeit zu Zeit traurig ist, ist vollkommen normal und vollends unbedenklich. Um diese Traurigkeit bei einem neurotischen Menschen auszulösen, reichen jedoch mitunter schon kleine Ereignisse, die andere Persönlichkeiten nicht aus der Bahn werfen würden. Geringfügige Veränderungen im Umfeld, eine Planung die am Ende doch nicht funktionierte, oder das Verschwinden des Lieblingsbuches können bei emotional labilen Menschen eine unverhältnismäßig starke und lang andauernde Traurigkeit auslösen, die eine Person mit einem stabilen Charakter auf den ersten Blick nicht nachvollziehen kann.
Hohe Stressempfindlichkeit
Menschen, deren Persönlichkeit als neurotisch kategorisiert wird, reagieren sehr empfindlich auf Stress. Wie man sich denken kann, bezieht sich das nicht nur auf objektiv stressige Situationen, wie beispielsweise einem umfangreichen, anstrengendem Projekt auf der Arbeit, sondern eben auch auf solche Momente, die andere erst gar nicht als stressig bezeichnen würden.
Sicherlich kann man sich denken, dass all diese Verhaltensweisen auf Dauer nicht gerade glücklich machen. Die Beziehungen von emotional labilen Personen zu ihren Mitmenschen leiden oft unter den Ausprägungen des hohen Neurotizismuswertes. Die Verhaltensweisen bergen nicht selten ein hohes Konflikt- und Reibungspotenzial. Das Verhältnis zu Arbeitskollegen oder Partnern wird dadurch auf lange Sicht häufig gestört. Dies birgt die Gefahr, dass die sozialen Kontakte von neurotischen Personen mit der Zeit immer mehr abnehmen könnten, da andere Menschen ihre Gesellschaft meiden.Eine Vereinsamung wäre die Folge. Dieser Schritt muss nicht zwangsläufig bösartig gemeint sein, sondern kann aus der blanken Überforderung mit dem Umgang mit einem neurotischen Mitmenschen resultieren.
Was können neurotische Charaktere tun?
Zunächst einmal ist es wichtig, die richtige Diagnose gestellt zu kriegen. Nur so erhält der Betroffene die Sicherheit die er braucht, um die nächsten Schritte einleiten zu können. Jeder Mensch hat einmal einen schlechten Tag und wird die oben beschriebenen Verhaltensweisen auch schon einmal am eigenen Leib erlebt haben. Bei neurotischen Charakteren sind diese Merkmale jedoch konstant und bilden nicht die Ausnahme. Die Reaktionen auf viele Situationen sind bei uns Menschen ab einem gewissen Alter durch die persönliche Erfahrung konditioniert, weshalb es schwierig ist, ganz alleine mit solchen Mustern zu brechen.
Wenn die Effekte von neurotischen Charakterzügen immer belastender werden und sich problematisch auf das Alltagsleben auswirken, sollte ein Facharzt konsultiert werden. Anschließend gibt es immer noch die Option, eine Verhaltenstherapie in Erwägung zu ziehen. Hier werden wiederkehrende Muster in der psychischen Konditionierung eines Patienten erkannt und Lösungsstrategien vermittelt. Auch werden die Entstehungsgeschichten und die Ursachen eines neurotischen Verhaltens ermittelt um ein umfassendes Bild zu erlangen.